Florian Kleedorfer über intelligente Agenten, das Web of Needs und was die Kritische Theorie damit zu tun hat
Florian Kleedorfer ist operativer Studioleiter des RSA FG-Studios „Smart Agent Technologies“. Im Rahmen seiner Diplomarbeit (TU Wien und Universität Linz, 2008) entwickelte er einen Algorithmus zur automatischen Erkennung von Themen in Liedtexten. Florian Kleedorfer ist Experte für Künstliche Intelligenz, insbesondere Machine Learning, Information Retrieval und Text Mining.
Lesen Sie hier ein Interview mit dem Forscher und Erfinder des „Web of Needs“.
Wie kam es dazu, dass Sie sich für Smart Agents Technologies – Intelligente Agenten zu interessieren begannen?
Computer haben mich schon sehr früh fasziniert. Heute würde ich sagen, es lag daran, dass sie zwar – als Maschinen – die vorgegebenen Programme ausführen, ein Teil der Umwelt von uns Kindern waren, mit der man in Computerspielen irgendwie fertig werden musste, ich aber andererseits ahnte, dass wir diese Außenwelt nach unseren Vorstellungen gestalten könnten, wenn wir nur programmieren lernten. Es war also schon früh eine Art Ermächtigungsgefühl mit der Idee des Programmierens verbunden, das, was uns – im Spiel – beherrscht, selbst beherrschen zu können.
Deshalb haben Sie Informatik studiert?
Ja. Später kam dann ein großes Interesse für Computergraphik und 3D-Modelle hinzu: Eine Erforschung der virtuellen Welten, die der Computer erschafft. Im Zuge meines Studiums der Informatik vertiefte ich mich in den Bereich der Artificial Intelligence, in dem die zuvor genannte Ermächtigung subtil umgedreht wird: durch die Nachahmung von menschlichen Lernvorgängen bestimmen wir natürlich weiterhin, was die Maschine tut, aber wir tun es auf einer anderen Ebene. Es geschieht nicht mehr durch klare, auf die Aufgabe gerichtete Befehle, sondern durch die Vorprogrammierung einer gewissen Adaptivität. Im Studio SAT (Smart Agent Technologies) konnte ich solche Methoden von Beginn an einsetzen, um IT-Systemen überraschende und für BenutzerInnen sinnvolle Funktionsweisen zu entlocken. In den ersten Jahren beschäftigten wir uns mit verschiedensten Ansätzen zur Berechnung von Vorschlägen, die zu einer bestimmten Situation oder beobachteten Vorlieben der BenutzerInnen passen. Dies sollte sich ändern.
Welchen neuen Prototypen bauen Ihr Team und Sie gerade?
Wir entwickeln das von uns so genannte „Web of Needs“ und spezialisieren es für verschiedene Anwendungsfälle. Der aktuelle Stand kann jederzeit auf unserem Demonstrator getestet werden: Die Anwendungsfälle, die wir derzeit untersuchen, kommen aus den folgenden Bereichen:
- Allgemeine Kleinanzeigen
- Gütertransport
- Taxi
- Mietwohnungen
- Carsharing
- Messen/Konferenzen
Bei jedem dieser Anwendungsfälle werden einfache Interaktionen zwischen den verschiedenen Rollen ermöglicht – einen Transport veranlassen, ein Taxi rufen, einen Wohunungsbesichtigungstermin vereinbaren, oder bei einer Messe interessante Kontakte knüpfen.
Inwiefern ist das „Web of Needs“ mit seinen Prototypen einzigartig?
Alle diese Prototypen haben gemein, dass verschiedene Installationen der Serversoftware miteinander kommunizieren können. Es entstehen also keine isolierten Plattformen. Stattdessen wächst mit jeder Installation das Gesamtsystem, es werden lediglich pro Anwendungsfall unterschiedliche Objekte repräsentiert (zb. Taxifahrten, Wohnungen, etc.) und unterschiedliche Interaktionsprotokolle genutzt (Taxi rufen, Besichtigungstermin ausmachen etc.). Wo es sinnvoll ist, können auch Objekte aus unterschiedlichen Anwendungsfällen miteinander kooperieren oder alternativ verwendet werden, wie beispielsweise im Fall von Taxis und Carsharing-Wagen. In dieser Hinsicht sind die entstehenden Prototypen einzigartig.
Welche Probleme löst das „Web of Needs“?
Für sich genommen ist jeder dieser Anwendungsfälle bereits vielfach durch existierende geschlossene Plattformen gelöst. Der Kern des Geschäftsmodells dieser Plattformen ist es allerdings, die Bedürfnisse der BenutzerInnen nur innerhalb der Plattform zu befriedigen (zum Beispiel finde ich als Uber-Nutzer nur Uber-FahrerInnen).
Im Kontrast hierzu werden Bedürfnisse, die im Web of Needs veröffentlicht werden, potenziell in allen Installationen sichtbar. Ich kann also davon ausgehen, mein Bedürfnis oder Angebot nur einmal posten zu müssen, um die gesamte Auswahl der möglichen Kooperationspartner zu finden.
Außerdem gibt es einen ‚Long Tail‘ an Anwendungsfällen, für die kein profitabler Business Case existiert und daher keine Plattformen/Apps dafür entstehen. Solche ‚Long Tail‘-Marktplätze könnten mit der von SAT entwickelten Technologie bedient werden.
Welche sind die wichtigsten Komponenten dieses neuen Prototyps?
- Owner Application: eine Webapplikation, mit der man als BenutzerIn ‚Needs‘ posten kann. Das kann ein Angebot, eine Nachfrage, oder eine andere Intention sein. Wenn man den Demonstrator ausprobiert, interagiert man mit einer Owner Application.
- WoN Node (Web of Needs Node): Server, auf dem die ‚Needs‘ gespeichert sind und über den die Kommunkationsverbindungen mit anderen Needs laufen.
- Matching Service: Ein Programm, das die Daten analysiert, die auf WoN Nodes gespeichert sind und gegebenenfalls durch das Senden von ‚Hint-Nachrichten‘ Verbindungen zwischen Needs initiiert.
- WoN Bot: Ein reaktives Programm, das Needs anlegen und verwalten kann und über diese Needs mit BenutzerInnen des Systems kommuniziert. Ein solcher Bot wird genutzt, um existierende Web APIs an WoN anzubinden.
Warum stellt das „Web of Needs“ einen Mehrwert für den/die Nutzer/in dar?
Perspektivisch gesehen ist WoN ein bedürfnisorientiertes Medium, das Kooperation und gegenseitige Abstimmung automatisierbar macht und dadurch vereinfacht. Kooperationspartner für beliebige Interaktionen können ad hoc gefunden werden, ohne dass man dafür zuerst die passende Plattform wählen müsste und dann auf die Benutzergruppe dieser Plattform beschränkt ist. Dies führt zu einem Wandel im Umgang mit den eigenen Wünschen und Plänen, denn es wird dadurch möglich, diese an einer Stelle zu verwalten (der bevorzugten Owner Application), anstatt sie wie derzeit auf viele Plattformen oder Apps aufteilen und teilweise duplizieren zu müssen. Die Repräsentation des Wunsches anstelle, wie derzeit üblich, des ihn befriedigenden Angebots erlaubt zudem einen anderen, stärker selbstbestimmten Zugang zu den eigenen Bedürfnissen.
Sie gehören zu jenen „ITlern“, die ihre Arbeit auch theoretisch reflektieren. Was hat Ihre Arbeit als Informatiker und Ingenieur mit Kritischer Theorie zu tun?
Parallel zu meiner Arbeit in SAT beschäftigte ich mich gemeinsam mit Freunden mit der Gesellschaftskritik von Karl Marx und den späteren, in dieser Tradition stehenden Proponenten der Kritischen Theorie. Über Jahre hinweg arbeiten wir neben anderen Werken die „Kritik der politischen Ökonomie“ durch, woraus ich zwei wesentliche Erkenntnisse zog:
Erstens leben wir in einer bis ins feinste Detail vom Kapital, also von millionenfach ineinandergreifenden, parallel ablaufenden Verwertungsprozessen beherrschten Welt. Wir Menschen haben diese Prozesse in Gang gesetzt und halten sie aufrecht, haben aber keine Kontrolle über sie. Vielmehr sind sie emergente Phänomene, die aus den Tauschbeziehungen zwischen Menschen entstehen und auf diese zurückwirken. Ein wirklich menschenwürdiger Zustand wäre aber jener, in dem die Menschen über die Nutzung ihrer persönlichen, gesellschaftlichen und natürlichen Ressourcen rational entscheiden. Ein solcher Zustand scheint mir logischerweise erstrebenswert.
Zweitens jedoch weiß niemand, wie dieser Zustand – diese Gesellschaft – funktionieren soll. Alle Versuche, sie zu erschaffen, sind auf entsetzliche Weise gescheitert. Marx, und in der Folge auch die kritische Theorie begegnet diesem Problem mit dem Verbot, sich ein positives Bild des besseren Zustandes zu machen. Stattdessen soll die Kritik der gegenwärtigen Welt quasi das Negativbild der anderen Gesellschaft abgeben. Mir leuchtet dieser Gedanke ein, nur läuft er meinem Ingenieursdenken zuwider, die Welt nicht nur kritisieren, sondern auch verändern zu wollen.
Aus diesen Voraussetzungen resultierte die Frage: Wie weit kann man sich ins Positive vorwagen, wie viel kann man schon heute über eine ‚befreite Gesellschaft‘ sagen, und kann man daraus eine nützliche, produktive Handlungsweise ableiten? Die Antwort, auf die ich stieß, war der Grundsatz „Jedem nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten“. Solange man keinen Zwang hineininterpretiert, ist er die unhintergehbare Basis der kommunistischen Idee. Es geht um die Vermittlung der menschlichen Bedürfnisse mit den menschlichen Möglichkeiten zu deren Befriedigung. Diese Vermittlung – die Entscheidung, welche Bedürfnisse wie befriedigt werden – findet heute über den Markt statt. In einer anders funktionierenden Gesellschaft geschieht dies auf andere Weise. Sie sich auszumalen ist zurecht mit einem ‚Bilderverbot‘ belegt.
Das Web of Needs als eine Art alternativer Marktplatz zum Turbokapitalismus?
In meiner Arbeit im SAT habe ich Technologien wie Matchingsysteme oder das Semantic Web kennen gelernt und begann zu erahnen: Wir haben heute die technischen Mittel, um zumindest diese erste Ebene im Web abzubilden, die Bedürfnisse der Menschen und die Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung zu erfassen und mögliche Lösungen zu berechnen. Ein solches System kann den Markt als Allokationsfunktion nutzen, wäre aber auch vielleicht ein Stück nützliche technische Infrastruktur für eine ganz anders funktionierende Gesellschaft, unabhängig davon, wie diese das Allokationsproblem löst.
Wir im Studio SAT haben uns zum Ziel gesetzt, diese Technologie zu entwickeln. Unter dem Namen ‚Web of Needs‘ entsteht, wie oben erwähnt, ein allgemein verwendbares, marktplatzartiges System, dessen einzelne Instanzen miteinander kompatibel sind und untereinander kommunizieren können, sodass ein Angebot oder ein Bedürfnis, das einmal veröffentlicht wird, für alle BenutzerInnen ein Anknüpfungspunkt für eine Koooperation sein kann.
Wir leben in einer Zeit der ‚Plattformisierung‘, in der die stark zentralisierenden Tendenzen der traditionellen Web-basierten Geschäftsmodelle deutlich werden. Als dezentrale Gegenbewegung werden Blockchain-basierte Lösungen propagiert, an deren Basis immer eine Art Währung zu finden ist. Web of Needs bietet demgegenüber einen Mittelweg: dezentralisiert, aber ohne den Aspekt der Bezahlung in die Infrastruktur einzugravieren. Diesen Mittelweg als tatsächlich nützliches System entlang realer Anwendungsfälle zu entfalten, ist eine enorm herausfordernde aber auch sehr faszinierende Tätigkeit.